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Last Call für die Gastronomie

In diesen Tagen und Wochen kehrt nach der Zwangsschließung Mitte März zwar in einen Großteil der Restaurants und Hotels wieder Leben ein, doch wird sich mit dem Re-Start der Gastronomie die Lage für viele Betriebe nicht schlagartig verbessern, sondern unter Umständen sogar verschlechtern. Nicht zuletzt durch die strengen Auflagen, die (je nach Größe des Betriebs) Umsatzeinbußen bis zu 70 Prozent bedeuten können, droht einer Branche, die mehrheitlich mit mageren Gewinnmargen wirtschaftet, trotz Lockerungen der Kollaps. Die Krise könnte aber auch eine (vielleicht letzte!?) Chance für die Gastronomie hierzulande sein, gestärkt aus ihr hervorzugehen. Sofern man nun Konsequenzen aus Fehlern der Vergangenheit zieht. Am besten im Kollektiv. 

Das sieht auch die ausgewiesene Restaurantexpertin Uta Bühler so, die einst zusammen mit Berthold Bühler erfolgreich die Résidence in Essen-Kettwig führte und in ihrem Fachmagazin Sternklasse schon in den vergangenen Jahren immer wieder auf mitunter hausgemachte Probleme ihrer Branche hingewiesen hat. In ihrem jetzt veröffentlichten „Last Call für die Gastronomie“ richtet sie einen Brandbrief an ihre Kolleginnen und Kollegen, legt schonungslos den Finger in Wunde, spricht aber auch Ideen an und zeigt auf, was sich dringend ändern müsste. Das kann nur gemeinsam angegangen werden. Damit die engagierte Gastronomie künftig mit einer starken Stimme sprechen und sich eine größere und bessere Lobby aufbauen kann, richtet sie einen dringlichen Appell, der alle auf Hilfe von außen Wartende veranlassen soll, jetzt aufzustehen und zu handeln.

Nachfolgend Uta Bühlers „Last Call für die Gastronomie“ im Wortlaut:

Wir bleiben zuhause. Covid-19 hat auf einen Schlag die Welt verdunkelt. Aus ihrem privaten Wohnzimmer senden berühmte Musiker und Schauspieler in die Wohnzimmer der Menschen. Mit ihren Streams stemmen sich die Künstler gegen die Folgen der Corona-Depression. Sie weisen auf die existenzielle Not freischaffender Künstlern hin, die seit Wochen keine Engagements haben. Sie verbünden sich gegen die Trostlosigkeit geschlossener Konzert- und Opernhäuser, unbespielter Theaterbühnen und ausfallender Festivals. Gegen das Ersticken der Lebensqualität kämpfen auch Bars, die nicht öffnen dürfen – und Restaurants, gerade wenn sie jetzt öffnen.

Die Speisegastronomie verliert derzeit 50 bis 70 Prozent Umsatz

Corona hat das Gastgewerbe im Würgegriff. Restaurants, die jetzt wieder öffnen dürfen, haben keine Chance, kostendeckend zu arbeiten. Denn für alle Betriebe bundesweit gilt ein einzuhaltender Mindestabstand. Dieser Mindestabstand beträgt 1,50 Meter für jeden Sitzplatz zu allen Sitzplätzen an anderen Tischen. Zigtausend Tische und Stühle verschwinden aus den Restaurants und wandern in den Keller. Wie viele das sind, veranschaulichte ein Möbelberg, den Gastronomin Kerstin Rapp-Schwan vor einem ihrer fünf Düsseldorfer Restaurants aufstapelte. „Vor Corona waren wir ein sehr gesundes Unternehmen“, sagt Rapp-Schwan. Jetzt ist sie verzweifelt. Zu 50-70 Prozent Umsatzverlust führe die neue Abstandsregel in der Speisegastronomie, prognostiziert Guido Zöllick, Präsident des Deutschen Hotel- und Gaststättengewerbes.

Deutschland muss seine Gastronomie erhalten   

Viele Restaurants öffnen trotz der ihnen bevorstehenden Verluste. Gastronomen sind das Kämpfen gewohnt. Bisher hat man noch jede Krise gemeistert. Hat selbst die Bewirtungsbeschränkungen durch Compliance-Regeln in den Unternehmen weggesteckt, die in den 1990er-Jahren das Restaurant-Mittagsgeschäft vernichteten und die Abendumsätze unter der Woche weggeschmolzen haben. Die Gastronomen spüren genau, dass sie es dieses Mal aus eigener Kraft nicht schaffen werden. Sie treten an in der Hoffnung auf weitere Unterstützung vom Staat. In halbleeren Räumen und mit Maske beatmen sie das gesellschaftliche Leben, um die dunkle Zeit zu überbrücken. Denn wenn nach Corona die alte Normalität wieder einkehren soll, das wissen sie, braucht es ihre Gasthäuser. Aber der Staat allein wird es nicht richten …

Kollegen helfen einander

Den Schutz für Mitarbeiter und Gäste setzen die Gastronomen über alles andere. Man ist den verantwortlichen Politikern dankbar für die beherzten Maßnahmen, die ein Massensterben wie in Bergamo und New York verhindert haben. In Deutschland darf es keine zweite Welle wie in Singapur geben. Das Gastgewerbe ist bereit, alle Sicherheitsvorschriften einzuhalten – und sogar darüber hinaus. Auf den Social Media Plattformen wird diskutiert wie die einzelnen und unterschiedlichen Regeln der Bundesländer umgesetzt werden können. Die nächsten Wochen werden schnell hervorbringen, wo Nachbesserungspotenzial besteht. In den Chats zeigt sich auch, dass von manchen Gastronomen nicht alles auf Anhieb verstanden wird. Auf Unsicherheiten wie „Darf keine gedruckte Speisekarte mehr an den Gast herausgegeben werden? Nur noch per App oder als Download?“, „Wie kennzeichnet ihr die Wege zu den Gast-Toiletten?“ oder „Nichts darf mehr auf dem Tisch stehen. Wie macht ihr das mit den Bestecken?“ folgen kollegiale Erklärungen, konstruktive Hinweise und wertvolle Tipps zu kostengünstigen Bezugsquellen. Beispielsweise für Desinfektionsmittel oder Einweg-Servietten, die gleichzeitig als Bestecktasche fungieren.

Eine neue gastronomische Haltung wächst, eine mit Rücken

Das Selbstbewusstsein der Gastronomen wächst. Während sie bis vor kurzem Dummheit und Häme aus eigenen Reihen auf Social Media Plattformen der Gastronomie selten etwas entgegensetzten, bitten besonnene Patrons und Gastronomie-Mitarbeiter nun immer häufiger um respektvollen Umgang. In der jetzigen Krise sei die Stimmung erdrückend genug, da dürfe man sich erschwerend nicht noch gegenseitig das Leben vergrämen – man müsse zusammenstehen. Aufheiterung findet sich in diesen Tagen wenig. Und wenn sie auftaucht, gelingt nicht allen, sie entsprechend einzuordnen. Das zeigt ein Facebook-Post von Steffen Henssler, worin er am 6. Mai in gewohnt laxer Manier die neuen Vorschriften auf die Schippe nimmt. Der Beitrag erzielte eine Schwindel erregend hohe Resonanz, wurde von seiner gastronomischen Fangemeinde an die 20.000 Mal geteilt und etwa 7.000 Mal kommentiert – er zeigt die ganze Power, die diese Branche entfalten könnte, wenn sie sich von Quertreibern sowie unbeirrbar pessimistischen Bedenkenträgern löst und endlich zusammen strategisch tätig wird. Diese Solidarität ist Voraussetzung, dass mutige Gastronomen in der Öffentlichkeit Gehör finden können.

Mit Gewinnmargen von 5-15 Prozent lassen sich kaum Rücklagen bilden

„Die Situation der Gastronomie ist dramatisch“, so Moritz Dietl gegenüber dem Handelsblatt. Er ist einer der beiden Geschäftsführenden Partner der Treugast, einer bekannten, seit über 30 Jahren agierenden Unternehmensberatung für Hotellerie und Gastronomie mit Standorten in München, Frankfurt und Berlin. „Die Branche hat typischerweise nur geringe Gewinnmargen zwischen 5-15 Prozent, deshalb ist es kaum möglich, große Rücklagen für Krisen zu bilden.“ Derzeit eröffnet niemand ein neues Restaurant. Doch Dietl kennt auch die hohe Insolvenzrate in der Gastronomie vor Corona. Seiner Einschätzung nach überlebten nur sechs von zehn neu eröffneten Restaurants die ersten fünf Jahre. Laut einer Creditreform-Untersuchung aus 2019 haben Unternehmen im Gastgewerbe insgesamt nur eine Lebenserwartung von durchschnittlich 12,5 Jahren, fast doppelt so alt werden Betriebe im Verarbeitenden Gewerbe.

Preise erhöhen ja oder nein

„Wir können unsere Gäste doch jetzt nicht bestrafen und die Preise erhöhen“, sagen die einen. „Wir müssen die Zusatzkosten transparent machen und weitergeben“, sagen die anderen und meinen damit nicht die durch Abstandsregeln entstehenden Umsatzeinbußen, die momentan per se jede Wirtschaftlichkeit verhindern. Weitergeben wollen die Befürworter die Kosten für zusätzlichen Hygiene- und Lohnaufwand (Bürokratie) und durch Corona bedingte Preissteigerungen für Lebensmittel (bis zu 92 Prozent laut Frankfurter Rundschau). In den Chats ärgern sich die Befürworter für das Einbeziehen der aktuellen Mehrkosten seit langem über die vielen betriebswirtschaftlich ungebildeten Gastronomen, die Preissteigerungen von Material-, Miet- und Energiekosten seit Jahren nicht in die Kalkulation einfließen lassen. Ob das aus Inkompetenz geschieht oder aus Angst, der Kunde Gast würde wegbleiben, ist unerheblich – der Schaden ist der gleiche. Und wo das Gasthaus zum stumpfen Stift unter Preis verkaufe und sich mit aller Gewalt und stetig wachsender Selbstausbeutung bis zum Untergang an Dumpingpreisen festhalte, da müssten die Mitbewerber drum herum unweigerlich ihre sauber kalkulierten Preise nach unten anpassen, damit ihnen der Gast nicht wegläuft, weil er sie für unverschämt und für viel zu teuer hält.

Den Hinweis „inkl. Mehrwertsteuer und Bedienung“ anwenden 

Nicht einmal an Weihnachten und Silvester kalkulierten in der Vergangenheit alle den vom Gesetzgeber steuerfrei zugestandenen Lohnaufschlag in die Menüpreise. Und so lohnten sie ihren Mitarbeitern nicht wertschätzend, sondern beschämend deren Alleinlassen ihrer Familie an den Festtagen. Im Branchenvergleich von A-Z  bilden die Berufe im Gastgewerbe seit Jahrzehnten das abgeschlagene Schlusslicht. Niemanden wundert die allgemeine Unzufriedenheit von Gastronomie-Mitarbeitern bei der Entlohnung – die meisten Gastronomen würden das am liebsten sofort ändern. Nur weiß keiner, wie er das machen soll. Doch jetzt ist der passende Zeitpunkt, Gäste über den mager kalkulierten Bedienungsaufschlag zu informieren. So wie es der Gesetzgeber für die Mehrwertsteuer fordert. In Prozenten und als Eurobetrag.  Der Satz auf jeder Rechnung „Mehrwertsteuer und Bedienung sind im Rechnungsbetrag enthalten“ lädt dazu ein. Wetten, dass die beiden Zahlen nebeneinander beim Gast Wirkung erzielen?

Danke Tim Mälzer!

Zuerst bei Markus Lanz und diese Woche in den Tagesthemen und in der NDR Talkshow gab Tim Mälzer den Sorgen des Gastgewerbes mutig ein Gesicht. Sein Gesicht. Er sprach Millionen Menschen an und führte der Öffentlichkeit vor Augen, wie hoffnungslos die Lage ist. Für die Betreiber von Bars, Restaurants, Cafés – für jeden Einzelunternehmer und für alle, die am Tropf der Gastronomie hängen. „Das System implodiert.“ Mit den geleisteten Steuern, so stellt der Unternehmer Mälzer  heraus, habe die Branche auf ein Krisenkonto eingezahlt. Mälzer verlangt kreative Steuermodelle. Die Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen von 19 auf 7 Prozent müsse auf Getränke erweitert werden und weder im Umfang noch in dem auf ein Jahr begrenzten Zeitraum aus, die Krise zu überbrücken. Die Gastronomie ist angeschossen, hat ein Pflaster auf der Wunde, aber die Kugel steckt noch im Körper und vergiftet ihn von innen, bebildert Mälzer die Situation. Diese Aussicht raube ihm wie vielen seiner Kollegen Enthusiasmus, Kreativität und Innovationsgeist. Auch wünsche man sich in der Branche Solidarität von Vermietern, da wo es sich um Banken und Immobilienfonds handelt.

Tim Mälzers tiefer Seufzer, nachdem Barbara Schöneberger ihn als „so etwas wie der inoffizielle Sprecher der deutschen Gastronomie“ eingeführt hat, enthüllt die Last auf seinen Schultern. Seine Erklärung, dass er nicht „der“ Sprecher sei „wir nutzen nur alle Facetten, um Aufmerksamkeit zu erregen“, ist ein deutlicher Aufruf an alle Unternehmer im Gastgewerbe. Mälzer unterstützt damit das Plädoyer für einen Zusammenschluss mutiger Gastronomen.

Das müssen Gastronomen gemeinsam anpacken

Die komplexen Probleme der Gastronomie Branche kann keiner im Alleingang lösen. Über Jahrzehnte wurde versäumt, angemessene Qualifikationen für die behördliche Anmeldung eines gastgewerblichen Unternehmens verpflichtend einzuführen. Bis heute ist nicht einmal eine abgeschlossene Ausbildung im Gastgewerbe hierzu notwendig. Die einzige Voraussetzung für die Eröffnung jeder Art von Gaststätte ist eine vierstündige körperliche Anwesenheitspflicht bei einer IHK-Unterweisung. Diese Tatsache ist die Ursache aller katastrophalen Verwerfungen, die das System Gastronomie an den Abgrund gebracht hat. Das am beklagenswerteste Resultat daraus ist der Lohntarif, der die Beschäftigten der Gastronomie auf direktem Weg in die Altersarmut führt.

Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband hat kläglich versagt, die Interessen seiner Restaurant-Mitglieder wahrzunehmen. Jetzt ist es an der Zeit, dass aktive Gastronomen sich zusammenschließen, um ihre Interessen gemeinsam in einem starken Verbund zu vertreten. Mitreißende Persönlichkeiten wie die Dresdnerinnen Kathleen Parma und Ute Stöhr, auf deren Initiative die Aktion „Leere Stühle“ ins Rollen kam, Restaurantchefin Kerstin Rapp-Schwan aus Düsseldorf und die vielen bekannten Fernseh- und Sterneköche sowie die seit Jahren erfolgreich am Markt agierenden Einzelunternehmer, sie alle müssen sich untereinander und mit Tim Mälzer verbinden. In einem solchen Verbund können neue Weichen gestellt werden, kreative Konzepte erarbeitet und Innovationen entwickelt werden. Mit einem solchen Verbund kann und wird die Politik reden.

Uta Bühler

In eigener Sache zum Aufruf an alle:

Die Emotionen und die Wogen, die mein Artikel „Gastronomen: Vorsicht bei der Wiedereröffnung!“ bei Restaurateuren und Wirten, bei Sterne- und Fernsehköchen, bei Mitarbeitern und Lieferanten der Gastronomie sowie bei alten Stammgästen der Résidence und Journalisten hervorgerufen hat, ließen mich denselben  Druck spüren, der im Seufzer von Tim Mälzer lag.

Ich wünsche mir sehr, dass sich mehr berühmte Köche und viele kluge Köpfe in den Dienst der Sache stellen.

Als mich ein namhafter JRE-Kollege fragte „Was tun denn jetzt die großen Namen für uns, die Sie aufgezählt haben?“, wurde mir bewusst, dass ich einen Last Call verfassen muss, der alle auf Hilfe von außen Wartende veranlasst, jetzt aufzustehen und zu handeln.

Wer dazu bereit ist, sollte sich hier auf Facebook committen oder mir eine E-Mail an buehler@sternklasse.de schicken.

 

Wir bewundern Uta Bühlers Engagement für die Branche und schätzen ihre Bereitschaft, für die Entstehung einer starken Allianz die Fäden zu ziehen und die richtigen Leute zusammenzubringen. Deshalb teilen wir ihren Aufruf an dieser Stelle und werden in den nächsten Tagen eruieren, was wir als Restaurantführer im Rahmen unserer Möglichkeiten noch beitragen können.

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